Junge Frauen zwangsversorgt und ausgebeutet

In einer neuen Ausgabe erinnert die Zeitschrift «Beobachter» an ein dunkles Kapitel in Walzenhausen. Der Fokus richtet sich auf das Töchterheim «Sonnenberg», in dem junge Frauen zwangsversorgt und ausgebeutet wurden.

  • Im Töchterheim «Sonnenberg» wurden von 1957 bis 1975 jungen Frauen zwangsverwahrt. Gemäss «Beobachter» ist hier das christliche Missionswerk «Movida» ansässig. (Bild: Peter Eggenberger)

    Im Töchterheim «Sonnenberg» wurden von 1957 bis 1975 jungen Frauen zwangsverwahrt. Gemäss «Beobachter» ist hier das christliche Missionswerk «Movida» ansässig. (Bild: Peter Eggenberger)

«Töchterheim Sonnenberg, P. und J. Vautier-Reift», heisst es im Telefonbuch 1973/75 für die Gemeinde Walzenhausen. Hinter dem unauffälligen Eintrag verbirgt sich ein dunkles Stück Geschichte, das von Journalist Yves Demuth im «Beobachter» ausgeleuchtet wird: «Pierre V. führte sein Privatheim mit Handelsregistereintrag von 1957 bis 1975. Rund 2000 Frauen hat er in dieser Zeit in umliegende Fabriken – unter anderem die Firmen Stickerei Kleinberger, Zelg-Wolfhalden, und Kunststoffwerk Weiss-Buob AG in Wolfhalden – zur Arbeit geschickt. Je nach Jahr wohnten 24 bis 91 Mädchen im ‹Sonnenberg›.»

Freiheitsberaubung selbst finanziert

«Der ‹Sonnenberg› war Teil eines repressiven Systems der Fürsorgebehörden, das aus 16- bis 20-jährigen Frauen mittels ‹Erziehung durch Arbeit› sittsame und angepasste Ehefrauen formen sollte», heisst es weiter im «Beobachter». «Einweisende Fürsorgebehörden der Stadt Zürich oder der Westschweiz überliessen ihre Klientinnen gerne dem Heim in Walzenhausen, da der Aufenthalt in der Regel gratis war. Für die Heimkosten hatten die Frauen mit ihrem bescheidenen Fabriklohn aufzukommen. Weil dieser direkt ans Heim ging, finanzierten sie ihre eigene Freiheitsberaubung…» Die Einweisungen erfolgten vielfach wegen Bagatellen.

Unehelich geboren und arm

Im «Beobachter» wird ausführlich auf die Leidensgeschichte der heute 81-jährigen Bernerin Liselotte S. eingegangen. Deren Unglück begann, als dem damals elfjährigen Mädchen seitens der Jugendanwaltschaft ein Diebstahl angekreidet wurde. In der Folge wurde Liselotte als uneheliches Kind ihrer Patchworkfamilie entrissen und stand seither unter Beobachtung. Acht Jahre später reichte die nach einem Schwatz mit «halbstarken Burschen» geäusserte Mutmassung, Liselotte S. werde vielleicht bald schwanger, für eine Einweisung in den «Sonnenberg», in dem sie volle zweieinhalb Jahre ausharren musste. «Ich war sehr allein in Walzenhausen», wird Liselotte S. zitiert. «Es herrschte ein Klima der Angst. Wir wurden ausgenutzt und ausgebeutet, wir waren unfrei. Pierre V. war ein Frömmler. Wir hockten jeden Sonntag zwei Stunden in seinem Zimmer und mussten seine Predigt anhören. In die Kirche durften wir nicht. Nie hat jemand für das Unrecht, das ich mit ins Grab nehmen werde, geradestehen müssen», wird Liselotte S. zitiert.

Ausserrhoden lehnte Heimaufsicht ab

Der seit 1955 als Gemeindehauptmann von Walzenhausen amtierende Ernst Vitzthum erkundigte sich bei der Regierung, ob Walzenhausen berechtigt sei, über das private Heim «Sonnenberg» eine Aufsicht zu errichten. Der Kanton lehnte ab mit der Begründung, es fehle eine gesetzliche Grundlage. 1964 doppelte Vitzthum in einer kantonsrätlichen Kommission nach und forderte eine Kontrolle des Heims. Es sei unbehaglich und scheine ein gutes Geschäft für den Heimleiter zu sein. Auch dieser Vorstoss verlief im Sand…

Ausbeutung und Zwangsarbeit

Der seit 35 Jahren rund um administrative Versorgungen forschende Historiker Thomas Huonker stellt kurz und bündig fest: «Die Ausbeutung im Töchterheim ‹Sonnenberg› war Zwangsarbeit.» Gemäss «Beobachter» zog Heimbesitzer Pierre V. 1975 als unbescholtener Mann ins Wallis, nachdem er die Liegenschaft einer Freikirche verkauft hatte.

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  • (Symbolbild: fotolia)

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